Am 4. April 2006 ermordete der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) den türkischstämmigen Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık in der Dortmunder Nordstadt. Die Grüne Jugend Dortmund gedenkt Kubaşık an seinem 14. Todestag und den weiteren neun Ermordeten, die zwischen September 2000 und April 2007 Opfer rechtsextremer Gewalt wurden. Wir setzten uns an diesem Tag für eine intensivere Arbeit gegen Rechtsextremismus ein und sagen: #keinschlussstrich in der Aufarbeitung der Taten und der Ermittlungsfehler der Justiz!
Der Prozess gegen Beate Zschäpe vor dem Oberlandesgericht München zwischen Mai 2013 und Juli 2018 konnte wegen fehlender Zeugen und Beweismittel die Frage, ob das NSU-Trio über Mittäter verfügte, nicht klären. Ein Beteiligter am Prozess hat dazu eine klare Meinung. „Die These der Bundesanwaltschaft, dass der NSU völlig losgelöst von Helfern, potentiellen Mittätern, gemordet habe, gilt als wiederlegt“, sagt Opferanwalt Yavuz Narin gegenüber dem ZDF.
Neben dem Umfeld der Täter bleibt unklar, welches Ziel der Verfassungsschutz durch V-Männer verfolgte. Die Verfassungsschützer nutzen V-Männer, um an Informationen und Beziehungen aus der Szene zu kommen. Dabei nahm die Justiz viele Risiken in Kauf, um weiter mit den V-Männern arbeiten zu können. 1998 wurde der V-Mann mit dem Denknamen „Piatto“ von einem anderen Neonazi kontaktiert, um über einen möglichen Waffenkauf für die drei Kollegen, Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund zu sprechen. Der Verfassungsschutz erfuhr von den Absichten des Trios sich zu bewaffnen, schritt jedoch nicht ein. Dies berichteten die Journalisten Stefan Aust und Dirk Laabs in der Dokumentation „Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU“. Der Quellenschutz scheint eine höhere Relevanz zu haben als eine Bewaffnung des NSU zu stoppen.
Die Verbindung vom Verfassungsschutz zum NSU
In einem anderen Fall verschleppte der sächsische Verfassungsschutz die Durchsuchung einer möglichen Bombenwerkstatt und verpasste durch diese Panne die Chance auf viele relevante Anhaltspunkte und Informationen. Ein Observationsteam, das vom Verfassungsschutz geführt wurde, beschattete Uwe Böhnhardt, um mehr Informationen zu seinen Aufenthaltsorten herauszufinden. Protokolliert wurde eine Garage außerhalb der Stadt, in der sich Böhnhardt und weitere Neonazis trafen. Der Ort erhielt die Einstufung als mögliche Bombenwerkstatt. Zu einer sofortigen Durchsuchung kam es aber aus ungeklärten Gründen nicht. Erst zwei Monate später ließ die Polizei den Raum durchsuchen. Die Polizei fand zu diesem Zeitpunkt TNT, fertige- und halbfertige Rohrbomben. Der Verdacht eines terroristischen Anschlages stand im Raum. Eine Festnahme gegen Böhnhardt, der anwesend war als seine Wohnung und Auto zusätzlich und zeitgleich nach Hinweisen durchsucht wurde, erließ die Staatsanwaltschaft nicht. Die Gründe dieser Entscheidung bleiben ebenfalls unbeleuchtet.
Ob der Verfassungsschutz genaue Informationen durch V-Männer zu Anschlagszielen hatte, konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden. Dieser Vorwurf lässt nach den Erkenntnissen nur schwer widerlegen. Ein 2015 öffentlich gemachtes Telefonat zwischen dem hessischen Geheimschutzbeauftragen des Landesamt für Verfassungsschutz, Gerald-Hesso Hess, und Andreas Temme, damals Betreuer mehrerer V-Männer, bringt das Amt in Erklärungsnot. Am 6. April 2006, nur zwei Tage nach dem Mord an Mehmet Kubaşık, erschoss der NSU in Kassel ein weiteres Opfer. Halit Yozgat, Besitzer eines Internetcafés, wurde in seinem eigenen Laden ermordet. Temme hielt sich am Nachmittag im Café auf, als Yozgat das neunte Opfer des Trios wurde. Als Zeuge meldete er sich danach nicht. Erst durch die Befragung anderer Zeugen und der Auswertung der Login-Zeiten der Computer konnte festgestellt werden, dass der hessische Verfassungsschützer zur Tatzeit an einem Rechner saß. Temme sagte dagegen aus, dass er zwar im Internetcafé war, dies aber zuvor verlassen habe. Hess bereite Temme kurze Zeit später auf dessen Anhörung durch die Polizei vor. Dann sagt er: „Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo so etwas passiert, dann bitte nicht vorbeifahren.“ In der Folge der Ermittlungen blockiert das hessische Innenministerium die weitere Aufarbeitung. In einer ersten Fassung des Protokolls, durch die Polizei angefertigt, wurde dieser Teil der Unterhaltung nicht aufgeführt (Quelle für Zitat und Sachlage: Wikipedia). Das geführte Telefonat erhärtet den Verdacht, dass der Verfassungsschutz Kenntnis über Tatort, Tatzeit und Opfer hatte. Wie, von wem und über welchen Weg Temme Zugang zu den Anschlagsplänen erhielt, bleibt unberührt im Schatten des Verfassungsschutzes.
Mordserie darf sich nicht wiederholen
Der NSU konnte problemlos untertauchen und weitere Taten planen, weil die Kriminalpolizei jahrelang ein rechtsextremes Motiv ausschloss. Die These, dass es sich um Clan-Kriminalität oder um Racheakte handle wurde bis zum letzten Mordfall in Kassel aufrechterhalten. Im Fall von Mehmet Kubaşık erfuhren die Ermittler von einer Verbindung zum fünften Todesopfer in Nürnberg aus dem Jahr 2005. Der Inhaber eines Dönerimbisses absolvierte mit Kubaşık gemeinsam den Wehrdienst in der Türkei. Diese flüchtige Bekanntschaft aus dem Jahr 1987 veranlasste die Ermittler zu glauben, dass beide eine politische Bewegung in der Türkei unterstützt hätten. Die Morde seien Vergeltung für ihre Hilfe.
Nach Bekanntwerden der Mordserie und Abschlusses des Gerichtsverfahrens gegen Beate Zschäpe war die Forderung von Politik und Gesellschaft, dass das Morden durch Rechtsextreme, begünstig durch Ermittlungsfehler, nicht wieder passieren darf.
Im Frühjahr des vergangenen Jahres wurde der Balkon einer syrischen Familie, die in Magdeburg wohnt, durch Unbekannte in Brand gesetzt. Die Kinder entgingen schweren Verletzungen nur knapp. Da das Auto des Vaters, der Backwaren aus seiner Heimat vertreibt, ebenfalls in Brand gesetzt wurde, musste von einer gezielten Tat ausgegangen werden. Die Ermittlung der Täter wurde nur beiläufig aufgenommen, Aufnahmen von naheliegenden Überwachungskameras wurden nicht ausgewertet. Die verantwortliche Behörde schloss zudem früh einen rechtsextremen Hintergrund aus, trotz des bestehenden Bedrohungsszenarios. Die Begründung des leitenden Staatsanwalts: Fehlende Hakenkreuze am Tatort schließen einen rechtsextremen Hintergrund aus, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Im Umkehrschluss heißt dies für Täter, die Anschläge planen, keine Spuren ihrer politischen Gesinnung zu hinterlassen, um zu erreichen, dass ihre Tat als nicht politisch motiviert eingestuft wird und sie außerhalb des Fokus der Ermittlungsbehörden bleiben.
Konsequenzen sind weiter nötig
Auch Jahre nach der Mordserie des NSU, unterschätzt die Justiz weiterhin die ausgehende Gefahr durch Rechtsextremismus. Wir als Grüne Jugend Dortmund fordern eine genauere Aufarbeitung bei Bedrohungstaten und Ermittlungstaktiken, die einen rechtsextremen Hintergrund nicht vor Auswertung aller Beweise und Indizien ausschließen. Außerdem setzen wir uns für eine vollständige Aufklärung der Aktivitäten des NSU, sowie präzise Ermittlungen, wer dem Trio finanzielle Hilfe gab, wer die Beschaffung von Waffen und anderen Materialien durchführte und wer die Planung und Durchführung der Taten unterstützte.
Dazu fordern wir eine Aufarbeitung der Rolle des Verfassungsschutzes, heißt, wieso das Netzwerk untertauchen konnte, warum ein rechtsextremer Hintergrund der Taten bis zum letzten Todesopfer konsequent ausgeblendet wurde. Die Grüne Jugend Dortmund fordert eine Analyse der Strukturen aus Vertuschung und Machtmissbrauch innerhalb des Verfassungsschutzes. Es darf nicht wieder passieren, dass Rechtsterroristen und Rechtsextreme nicht an Taten gehindert werden. Der Verfassungsschutz muss unabhängig überprüft werden und darf seine eigenen Fehler nicht wiederholt selbst verwischen.